Göttinger Tango-Info Nr. 55/56 Juli/August 2011 - P. 2

Editorial

Tango in Montevideo heisst Tanzen am Fluss. Denn in der uruguayischen Hauptstadt ist man nie weit vom riesigen La-Plata-Strom entfernt, und an vielen Stellen der Stadt eröffnen sich immer wieder wunderschöne Blicke auf die unendliche Wasserfläche, die mit dem Stand der Sonne und abhängig von den mitgeführten Schlammsegmenten ihre Farbe ständig in allen Schattierungen wechselt zwischen milchkaffebraun, graugrün und stahlblau. Tangokunst vom nördlichen*) Ufer des Rio de La Plata, das ist Tango aus einer Traumwelt. Montevideo…

Die Tangos der vorliegenden Sammlung werden von dem uruguay­ischen Sänger und Komponisten Raúl Montero gesungen, der auch die meisten von ihnen komponiert hat. Die Hälfte der Texte entstammt der Feder des uruguayischen Dichters Enrique Estrázulas.

Der Plan zu dieser Arbeit entstand an zwei strahlend schönen September­tagen des Jahres 2009 im Hause Raúl Monteros, während draussen die Gärtner ihre Frühlingsarbeiten verrichteten und beim Lärm der geschäftigen Vögel der Geruch von frischer Erde durch die geöffneten Fenster drang.

Am Ende übergab mir Raúl seine noch unveröffentlichten Tangoproduktionen mit den Worten: "Mach was draus!"

Die hier versammelten 12 Tangos sind erst ein kleiner Teil des Gesamtwerks von Raúl Montero. Wegen ihrer Einzigartigkeit schienen sie mir besonders geeignet, vorrangig dem deutschen Publikum vorgestellt zu werden.

Die Musik des Tangos verfügt über ein ungeheuer reichhaltiges Ausdrucks­spektrum, denn sie kann Elemente aus unter­schiedlichsten Musikrichtungen in sich aufnehmen und mit ihnen zu einer neuen Tangomusik verschmelzen. So gibt es jazzartige Tangos (die auch mit den entsprechenden Instrumenten gespielt werden) und solche, die die Grenzen zur klassischen Musik überschreiten. Aber selbst Klangerzeugungen der elektronischen Musik haben in den Tango Eingang gefunden und zum Begriff des „Electrotango“ geführt.

Es ist die Wandelbarkeit des Tangos, die uns diese faszi­nie­rende Kultur als immer wieder neu, aktuell und spannend erleben lässt. Der Tango ist nichts Abgeschlossenes, Historisches, sondern er ist lebendig in Poesie, Musik und Tanz. Vor allem aber ist Tango Gefühl. So wie es im authentischen Tango Rioplatense (dem "Tango vom Rio de La Plata") keine verbindlichen Schritte und Figuren gibt, sondern wo es im Kern nur darauf ankommt, in welcher Harmonie und Intensität des sensiblen Zusammenspiels ein Tanzpaar seine Interpretation improvisierend gestaltet, so ist auch jede Musik Tango, wenn der Komponist sie im Gefühl des Tangos ersonnen hat. Nur so ist es zu erklären, dass manche Komposition, die der Komponist als "Tango" bezeichnet hat, beim blossen Hören nicht als solcher zu erkennen ist.

Raúl Montero ist ausgebildeter Opernsänger. So verwundert es nicht, dass seine eigenen Tangokompositionen und die seiner Freundinnen und Freunde entweder dem traditio­nellen, gut tanzbaren Tango zugehören (wie das Titellied Bailando junto al Río), oder dass manche Canciones schon dem Genre "Lied" der klassischen Musik zuzurechnen sind (Montevideo vacía).

 

Raúl Montero
Raúl "Ciruja" Montero vor seinem Haus in Montevideo

Letztere sind zwar immer noch tanzbar, erfordern aber ein entsprechend weiter entwickeltes tänzerisches Können und sind für die normale Milonga (Tango als Gesellschaftstanz) weniger geeignet..

Tango von beiden Ufern des Río de la Plata ist immer auch Ausdruck des Lebens­gefühls der Menschen in Argentinien und Uruguay. Dass beide Länder sich als kulturelle Einheit verstehen, davon singt Raúl Montero in seinem Tango Canción del Plata ("Das Lied vom La Plata"). Es wäre daher spitzfindig, von einer spezifisch uruguayischen oder argentinischen Tangokunst zu sprechen, zumal die Titelmusik dieser Sammlung von der Argentinierin Alicia Weingarten komponiert wurde. Dass in beiden Tangometropolen aber eine ganz besondere, dem Charakter und Temperament der jeweiligen Stadt entsprechende Tangostimmung hautnah zu verspüren ist, davon mag sich jeder Tangoreisende selbst überzeugen. Die kontemplative, gelassen melancholische Stimmung Montevideos, die durchaus auch mal mit einer Prise Sarkasmus gewürzt sein kann, ist in der vorliegenden Sammlung, wie ich finde, in besonders spürbarer Weise eingefangen.

Eckart Haerter


*) Der Rio de La Plata fliesst nicht exakt in west-östlicher Richtung, und die Küstenlinie ist nicht schnurgerade. Dadurch kommt es, dass das am "nördlichen" Ufer gelegene Montevideo geographisch geringfügig südlicher liegt als Buenos Aires.

 

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