Editorial
Tango in Montevideo heisst Tanzen am Fluss. Denn in der uruguayischen Hauptstadt
ist man nie weit vom riesigen La-Plata-Strom entfernt, und an vielen Stellen der
Stadt eröffnen sich immer wieder wunderschöne Blicke auf die unendliche Wasserfläche,
die mit dem Stand der Sonne und abhängig von den mitgeführten Schlammsegmenten ihre
Farbe ständig in allen Schattierungen wechselt zwischen milchkaffebraun, graugrün
und stahlblau. Tangokunst vom nördlichen*) Ufer des Rio de La Plata, das ist Tango aus
einer Traumwelt. Montevideo…
Die Tangos der vorliegenden Sammlung werden von dem uruguayischen Sänger und Komponisten
Raúl Montero gesungen, der auch die meisten von ihnen komponiert hat. Die Hälfte der
Texte entstammt der Feder des uruguayischen Dichters Enrique Estrázulas.
Der Plan zu dieser Arbeit entstand an zwei strahlend schönen Septembertagen
des Jahres 2009 im Hause Raúl Monteros, während draussen
die Gärtner ihre Frühlingsarbeiten verrichteten und beim Lärm der
geschäftigen Vögel der Geruch von frischer Erde durch die geöffneten Fenster
drang.
Am Ende übergab mir Raúl seine noch unveröffentlichten Tangoproduktionen mit den
Worten: "Mach was draus!"
Die hier versammelten 12 Tangos sind erst ein kleiner Teil des Gesamtwerks von Raúl
Montero. Wegen ihrer Einzigartigkeit schienen sie mir besonders geeignet, vorrangig
dem deutschen Publikum vorgestellt zu werden.
Die Musik des Tangos verfügt über ein ungeheuer reichhaltiges Ausdrucksspektrum, denn sie
kann Elemente aus unterschiedlichsten Musikrichtungen in sich aufnehmen und mit ihnen zu
einer neuen Tangomusik verschmelzen. So gibt es jazzartige Tangos (die auch mit den
entsprechenden Instrumenten gespielt werden) und solche, die die Grenzen zur klassischen
Musik überschreiten. Aber selbst Klangerzeugungen der elektronischen Musik haben in den
Tango Eingang gefunden und zum Begriff des „Electrotango“ geführt.
Es ist die Wandelbarkeit des Tangos, die uns diese faszinierende Kultur als immer wieder
neu, aktuell und spannend erleben lässt. Der Tango ist nichts Abgeschlossenes, Historisches,
sondern er ist lebendig in Poesie, Musik und Tanz. Vor allem aber ist Tango Gefühl. So wie
es im authentischen Tango Rioplatense (dem "Tango vom Rio de La Plata") keine verbindlichen
Schritte und Figuren gibt, sondern wo es im Kern nur darauf ankommt, in welcher Harmonie
und Intensität des sensiblen Zusammenspiels ein Tanzpaar seine Interpretation improvisierend
gestaltet, so ist auch jede Musik Tango, wenn der Komponist sie im Gefühl des Tangos ersonnen
hat. Nur so ist es zu erklären, dass manche Komposition, die der Komponist
als "Tango" bezeichnet hat, beim blossen Hören nicht als solcher zu erkennen ist.
Raúl Montero ist ausgebildeter Opernsänger. So verwundert es nicht, dass seine eigenen
Tangokompositionen und die seiner Freundinnen und Freunde entweder dem traditionellen, gut
tanzbaren Tango zugehören (wie das Titellied Bailando junto al Río), oder dass
manche Canciones schon dem Genre "Lied" der klassischen Musik zuzurechnen sind
(Montevideo vacía).
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Raúl "Ciruja" Montero vor seinem Haus in Montevideo
Letztere sind
zwar immer noch tanzbar, erfordern aber ein entsprechend weiter entwickeltes tänzerisches Können
und sind für die normale Milonga (Tango als Gesellschaftstanz) weniger geeignet..
Tango von beiden Ufern des Río de la Plata ist immer auch Ausdruck des Lebensgefühls der
Menschen in Argentinien und Uruguay. Dass beide Länder sich als kulturelle Einheit verstehen,
davon singt Raúl Montero in seinem Tango Canción del Plata ("Das Lied vom
La Plata"). Es wäre daher spitzfindig, von einer spezifisch uruguayischen oder
argentinischen Tangokunst zu sprechen, zumal die Titelmusik dieser Sammlung von der Argentinierin
Alicia Weingarten komponiert wurde. Dass in beiden Tangometropolen aber eine ganz besondere, dem
Charakter und Temperament der jeweiligen Stadt entsprechende Tangostimmung hautnah zu verspüren ist,
davon mag sich jeder Tangoreisende selbst überzeugen. Die kontemplative, gelassen melancholische
Stimmung Montevideos, die durchaus auch mal mit einer Prise Sarkasmus gewürzt sein kann, ist in der
vorliegenden Sammlung, wie ich finde, in besonders spürbarer Weise eingefangen.
Eckart Haerter
*) Der Rio de La Plata fliesst nicht exakt in west-östlicher Richtung, und die Küstenlinie
ist nicht schnurgerade. Dadurch kommt es, dass das am "nördlichen" Ufer gelegene Montevideo
geographisch geringfügig südlicher liegt als Buenos Aires.
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